BME rmr-Webinar: „Digitalisierung im Einkauf“: Langfristige Perspektive schlägt kurzfristigen Aktionismus

Alle reden von der Corona-Pandemie. Das ist zwar nicht verwunderlich, versperrt aber doch den Blick auf Herausforderungen, die noch sehr viel größer, weil langwieriger sind. Der Klimawandel zählt zweifelsohne dazu, auch die zunehmende Komplexität und Anfälligkeit der Lieferketten. Es sind nur zwei von mehreren Faktoren, die Einkäuferinnen und Einkäufer unbedingt auf dem Zettel haben sollten – sagt Professor Dr. Ronald Bogaschewsky, Inhaber des Lehrstuhls für BWL und Industriebetriebslehre an der Uni Würzburg. In einem BME rmr-Webinar präsentierte er nicht nur eine Analyse der Ist-Situation, sondern auch erste Zahlen aus einer aktuellen empirischen Einkäufer-Studie. Die rund 50 Teilnehmenden haben nun einen Wissensvorsprung, denn die Ergebnisse werden erst in den kommenden Wochen veröffentlicht.
Der Einstieg geriet überraschend. War die Veranstaltung mit „Digitalisierung im Einkauf“ überschrieben, dürfte es den einen oder die andere erstaunt haben, dass zunächst über das Klima gesprochen wurde. „Man sollte das Thema nicht entkoppelt sehen von der grundsätzlichen Entwicklung, die der Einkauf vielleicht in den nächsten Jahren nehmen wird“, erklärte Bogaschewsky sein Vorgehen – und machte es in der Folge deutlich. Er nannte den Klimawandel „die zentrale Herausforderung des Einkaufs in den nächsten mindestens zehn Jahren“. Damit einher gehe der Umweltverbrauch, „als Quelle für Rohstoffe und als Senke für Schadstoffe“. Bereits heute führt das zu vielen Krisen – und schon wird klar, was das Ganze mit Lieferketten zu tun hat. Die Endlichkeit natürlicher Ressourcen, fuhr er fort, werde von den meisten Menschen unterschätzt. Wer sich darauf gefasst macht, wird Vorteile haben: Proaktives Risikomanagement ist zu einer der zentralen Aufgaben für Einkäufer geworden.
In zahlreichen Unternehmen stünde dieses Bewusstsein aber immer noch nicht im Vordergrund des Handelns. Vielleicht, weil es wenig monetären Gewinn verspricht? Dem ist nicht so, widersprach der Referent, und führte unter anderem eine McKinsey-Untersuchung an. Der zufolge schafft auch ein starkes Umwelt-, Sozial- und Governance-Angebot Mehrwert für die Stakeholder. Mehr noch: Wer langfristig denkt und handelt, fahre im Durchschnitt wesentlich größere Gewinne ein als von Kurzfristigkeit getriebene Organisationen. Weitere Aspekte, die Purchasing seiner Auffassung nach im Blick haben muss, sind die Entwicklung einer zukunftsfesten Einkaufsstrategie und, natürlich, eine fortschrittliche Digitalisierung im strategischen Bereich.
Werte werden wichtiger
Dies führte nahtlos zum zweiten Teil des Webinars. Professor Bogaschewsky gab Einblicke in erste Ergebnisse einer zu dem Zeitpunkt noch laufenden Studie über digitale Lösungen zur strategischen Unterstützung von Einkauf und Supply Chain Management. Ohne die finale Veröffentlichung vorwegzunehmen: Es deutet sich bereits ein Paradigmenwechsel hinsichtlich globaler Herausforderungen wie den oben genannten an. So sagte eine große Mehrheit der befragten Unternehmen, dass ihnen bei der Kontrahierung möglicher neuer Lieferanten umweltbezogene anbieterspezifische Informationen sehr wichtig sind. Möglicherweise hat daran auch die geplante Einführung des Lieferkettengesetzes Anteil. Fast ebenso viele legen bei der Lieferantenakquise nämlich auch Wert auf ethisch-soziale Aspekte.
Weniger überraschend ist eine recht große Lücke zwischen dem Wunsch nach mehr Informationen, etwa zu Anbietern und Märkten, und der noch eher seltenen Unterstützung dabei durch fortgeschrittene digitale Technologien. Dieser Unterschied ist auch aus anderen Bereichen bekannt: Die Digitalisierung weckt Begehrlichkeiten, die insbesondere in kleinen und mittleren Unternehmen an mangelnden Ressourcen – meist Zeit, Geld und/oder Fachpersonal – scheitert. Bestätigt wird die These durch das Ergebnis, dass rund 80 Prozent der Unternehmen tatsächlich einen zusätzlichen Mehrwert von digitalen Lösungen für strategische Aufgaben erkennen.
Vertragsverhandlungen indes werden weiterhin von den meisten als eine Aufgabe für Menschen angesehen. Weniger als ein Drittel der Befragten kann sich derzeit für teilweise oder ganz automatisierte Vertragsverhandlungen mit Anbietern erwärmen. Unterstützend können solche Systeme aber durchaus Vorteile ausspielen. Dass sie die Menschen ersetzen, glaubt nur eine Minderheit. Stattdessen geht die große Mehrheit davon aus, dass die Rolle des Einkaufs noch stärker wird. Eine optimistische und Mut machende Einschätzung, an die sich eine abschließende Frage-und-Antwort-Runde anschloss.
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David Schahinian